Am 27. April lud der Rote Wedding zu einer Vor-Mai-Feier ein. Folgende Rede von einer Genossin aus dem Wedding wurde dazu gehalten.

 

Meine Damen und Herren, liebe Genossinnen und Genossen,

der 1. Mai 2019 steht im Zeichen der Wahlen zum Parlament der Europäischen Union. Der diesjährige Tag der Arbeit und der Solidarität ist in diesem Jahr zugleich mit wichtigen historischen Daten verbunden.

Vor 130 Jahren tagte in Paris ab dem 14. Juli 1889, dem Tag, an dem 100 Jahre zuvor die Große Französische Revolution begann, der Internationale Arbeiterkongress, auf dem die Zweite Sozialistische Internationale gegründet wurde. Das Treffen entsprach dem Wunsch nach grenzüberschreitender Zusammenarbeit unter den Arbeiterorganisationen verschiedener Länder. Auf ihm wurde auch beschlossen, am 1. Mai 1890 weltweit Kundgebungen zur Durchsetzung das Achtstundentages bei einer Sechs-Tage-Arbeitswoche abzuhalten, als „Weltfeiertag der Arbeit“. Das war die Geburtsstunde des 1. Mai als Kampftag der internationalen Arbeiterklasse. Der Kongress erhob die Forderung, die stehenden Heere zugunsten einer allgemeinen Volksbewaffnung, eines Milizsystems, abzuschaffen, und erklärte den Frieden zwischen den Nationen zu einer Grundbedingung der Arbeiterbewegung. Auf Antrag von Clara Zetkin und Emma Ihrer beschloss die Versammlung zugleich, sich nicht gegen die Erwerbstätigkeit von Frauen auszusprechen, sondern vielmehr anzuerkennen, dass Frauen in den Gewerkschaften die gleichen Rechte wie Männer haben. Clara Zetkin sprach auf dem Kongress über die Lage der Arbeiterinnen.

Die Beschlüsse dieses Kongresses und seine Forderungen machen deutlich, was in den seit damals vergangenen 130 Jahren erkämpft werden konnte und wie viel noch zu erkämpfen ist, ja, was an Errungenschaften durch Klassenkampf von oben wieder verlorenging. Die Forderung nach Gleichberechtigung von Frauen im Arbeitsprozess steht weitgehend noch immer auf dem Papier.

Die 40-Stunden-Woche beziehungsweise die Fünf-Tage-Arbeitswoche wurde z. B. in der Bundesrepublik und der DDR zwar ab Mitte der 1960er Jahre eingeführt. Heute wird sie aber für große Teile der Beschäftigten mehr und mehr durchlöchert. Im Durchschnitt lag die tatsächliche Arbeitszeit in der Bundesrepublik im Jahr 2015 drei Stunden über der tarifvertraglich vereinbarten Wochenarbeitszeit von 37,7 Stunden. Dahinter verbergen sich Überstunden und Wochenendarbeit in gigantischem Ausmaß. Von den 1,8 Milliarden Überstunden bleibt eine Milliarde unbezahlt. Fast 60 Prozent aller Beschäftigten müssen länger arbeiten als vertraglich festgelegt.

Dabei erlaubt die rasant gestiegene Arbeitsproduktivität längst eine Verkürzung der Arbeitszeit auf die 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. Stattdessen bringt die technische Revolution, die wir erleben, unter kapitalistischen Bedingungen denen, die einen Job haben, Mehrarbeit und mehr Stress statt mehr Freizeit. Die Arbeitszeit wird länger statt kürzer, flexibler statt geregelter, ungesünder statt gesünder. Und es gilt die Regel: Je niedriger der Lohn, etwa für osteuropäische Arbeitsmigranten in der Fleischindustrie oder auf dem Bau, desto weniger werden die gesetzlichen Vorgaben für Arbeitszeiten eingehalten.

Die uralte, letztlich mehr als 200 Jahre alte Forderung der Arbeiterbewegung nach Verkürzung der Arbeitszeit bleibt eine zentrale Forderung auch im 21. Jahrhundert. Es ist daher wichtig, dass die IG Metall seit 2016 nach Jahren der Untätigkeit, nach Jahren des Rückschritts und Zurückweichens diese Frage wenigstens in ihrer Branche wieder in den Mittelpunkt gestellt hat. Andere Gewerkschaften müssen endlich folgen.

Was hat die Europäische Union in dieser Hinsicht den Arbeitenden gebracht? Die Antwort lautet: Nichts. Der Grund ist: Arbeitszeitfragen sind Verteilungs- und damit Machtfragen zwischen Kapital und Arbeit. Daher geht es in dieser Hinsicht nicht voran, sondern für viele zurück, darum nimmt EU-weit die Spaltung in dieser Hinsicht zu und nicht ab. Der DGB formuliert in seinen Forderungen zur EU-Wahl: „Lange Zeit standen nicht die Rechte der Beschäftigten im Vordergrund der EU, sondern wirtschaftliche Ziele.“

Das ist eine Verharmlosung und nicht die entscheidende Frage: Die lautet, ob sich dieser Vorrang von Kapital vor Arbeit im Rahmen der EU ändern lässt. Viele Parteien, die für das EU-Parlament kandidieren, beantworten diese Frage mit ja und streben eine sozialere, demokratische EU an. Wir, die DKP, sagen: Nein, diese EU ist in dieser Hinsicht nicht reformierbar. Das bedeutet nicht, die Hände in den Schoß zu legen, es bedeutet vielmehr, an Kämpfen um fortschrittliche Reformen teilzunehmen, grenzüberschreitend, länderübergreifend.

Es bedeutet z. B. zu verhindern, dass das reiche Deutschland im Pflegebereich, in der Bauindustrie, in der gigantisch aufgeblähten deutschen Fleischindustrie, aber auch in Hith-Tech-Branchen wie der Autoindustrie billige Arbeitskräfte vor allem in Osteuropa anwirbt, um in der Bundesrepublik die Löhne zu drücken, um hier die Arbeitszeit nicht zu verkürzen, sondern zu verlängern, und um an die systematisch abgeworbenen Arbeitskräfte Hungerlöhne zu zahlen. Tagtäglich werden in diesem Land Migranten gegen einheimische Arbeitskräfte ausgespielt, wird Konkurrenz zwischen den Beschäftigten geschaffen und systematisch verschärft. Kapital interessiert sich für Migranten nur, wenn es mit ihnen den Ausbeutungsgrad im eigenen Haus erhöhen kann. Das ist Rassismus, der im Innersten dieses Systems angelegt ist. Denn wo es um Maximalprofit geht, kann es nicht um Menschen gehen, egal woher sie kommen, welche Weltanschauung sie haben oder welche Hautfarbe – sie werden danach beurteilt, ob sie mehr Rendite schaffen oder nicht. Wer es nicht schafft, wird weggeworfen.

Wir, die DKP, meinen daher, dass international um Veränderungen gekämpft werden muss, halten aber die EU als solche nicht für fortschrittlich, nicht für antimilitaristisch, sondern für neoliberal und undemokratisch. Das Reaktionäre, das Militaristische, das Neoliberale, das Undemokratische sind Grundbestandteile der EU, nachzulesen in den Verträgen von Maastricht und Lissabon. Sie ist dort als eine Union des Kapitals festgeschrieben. Eine Sozialunion ist nicht vorgesehen, auch kein Parlament, das den Mindestanforderungen an eine gesetzgebende, souveräne Versammlung genügt. Das EU-Parlament hat kein Recht auf Initiativen zur Gesetzgebung.

Unter solchen Vorzeichen steht die EU folgerichtig für Krieg. 130 Jahre nach dem Arbeiterkongress von Paris stellen wir fest: Die Forderung nach Abschaffung der stehenden Heere und nach Frieden in Europa und der Welt ist mit dieser EU unvereinbar. Die westeuropäischen Gemeinschaften, die sich seit den 1950er Jahren „europäisch“ nennen, also Etikettenschwindel betreiben, waren von Anfang an Instrumente des Kalten Krieges. Seit der Gründung der EU Anfang der 1990er Jahre steht sie auch für heißen Krieg – angefangen bei den Kriegen zur Auflösung Jugoslawiens mit Zehntausenden Toten und Hunderttausenden Flüchtlingen.

Und die Militarisierung der EU wird zielstrebig vorangetrieben, so wie es im Vertrag von Lissabon 2010 vereinbart wurde.

Erstens: Die EU hat heute 16 sogenannte Missionen außerhalb ihres Gebietes im Einsatz, darunter sechs militärische – eine davon in Bosnien-Herzegowina, also in Europa – und zehn angeblich zivile.

Zweitens: Die EU-Staaten gaben 2017 für Militär und Rüstung zusammen weit etwa 245 Milliarden Euro aus. Damit liegt die EU, die Trägerin des Friedensnobelpreises von 2012, an zweiter Stelle in der Welt hinter den USA. Drittens: In wenigen Wochen wurde Ende 2017 von 25 EU-Mitgliedern die sogenannte Ständige Strukturierte Zusammenarbeit, die englische Abkürzung lautet PESCO, auf militärischem Gebiet geschaffen. Das ist der Keim für ein europäisches Kriegsministerium und eine EU-Armee.

Viertens: Die EU kooperiert seit 2016 noch enger mit der NATO. Sie unterstützt deren Politik der Abschreckung den Vormarschs in Richtung Russland. So hat sie sich im vergangenen Jahr dazu verpflichtet, ein „militärisches Schengen“ zu schaffen. Gemeint ist ein Programm, um vor allem US-Truppen in Europa schneller verlegen zu können. Dazu gehören neue Straßen, Autobahnen, Brücken, Tunnel und Gleise in Richtung russischer Grenze, auf denen Transporte von Panzern und anderem schweren militärischem Gerät möglich werden. Nach Ansicht der US- und NATO-Militärs ist in den vergangenen 70 Jahren der Bau militärtauglicher Infrastruktur in Europa zu kurz gekommen. Das ändert die EU jetzt als Dienstleister in erster Linie für die USA.

Es ist daher nicht hinzunehmen, wenn der DGB wie so viele andere in seinen Forderungen zur EU-Wahl unter Missachtung all dieser Tatsachen behauptet: „Seit mehr als siebzig Jahren herrscht Frieden in großen Teilen Europas, länger als je zuvor.“

Wir widersprechen: Das ist eine Lüge. Wer Rekordsummen für Rüstung und Krieg ausgibt, wer die Kriege in Jugoslawien in den 1990er Jahren zu verantworten hat, wer 2013 die Ukraine vor die Wahl zwischen EU oder Russland stellte und so den Krieg in der Ostukraine mitverursachte, der hat mit Frieden nichts zu tun. Der sollte den Friedensnobelpreis zurückgeben. Wir sagen: Die Europäische Union ist eine Kriegsunion. Wir verlangen, dass Hochrüstung und Kriegsteilnahme der EU endlich gestoppt werden.

Das entspricht den Forderungen der deutschen und der internationalen Arbeiterbewegung. Das hat sich seit 130 Jahren, seit dem Arbeiterkongress von Paris, immer noch nicht zum Besseren verändert – trotz zweier Weltkriege und ungezählter anderer.

Stoppen wir die Militarisierung der EU! Wählen wir Kriegsgegner ins EU-Parlament!